Hinter dem Titel "Lucanus Projektion" verbirgt sich nicht nur meine unscheinbare Komposition für Flöte und Klavier. Vielmehr steht
der Name für alle Früchte und skurrilen Nebenprodukte einer nicht ganz alltäglichen Zusammenarbeit mit dem Künstler
Klaus Fabian.
Soviel Material ließe sich hier zusammentragen, daß ich streng wie bei keinem anderen meiner Stücke darauf achten muß, mich zu
bremsen. Es liefen ab 1989 mehrere Ausstellungen der Bilder und Installationen, als Vernissage meist eine Aufführung der Musik mit medial aufwendigen gemeinsamen Anstrengungen, dem Besucher einen
vagen Eindruck von den komplexen Zusammenhängen zu vermitteln. Es gab auch Besucher, die einen der handkolorierten Bildbände mit Tonbandkassette gekauft haben. Von der Lokalpresse wurden wir mit
mehreren Zeitunsgartikeln belohnt. Einer aus der Feder von Carsten Dürer berichtete am Dienstag, 7. November 1989 (also zwei Tagen vor einem noch etwas epochaleren Ereignis) in der
Neuß-Grevenbroicher Zeitung (NGZ) über die Uraufführung am voraufgehenden Sonntag :
Uli SCHAUERTE Lucanus Projektion: NGZ-Artikel (Carsten .Dürer) zur Uraufführung, November 1989
Auch was sich sonst in der Lokalpresse fand, möchte ich hier nicht vorenthalten, und sei es nur der Komik zuliebe, die hie und da
durch Druckfehler oder verrutschte Formulierungen eine eigene Qualität entwickelt. Um die Ausschnitte zu lesen, klicken Sie bitte auf einen der Zeitungsausschnitte der folgenden
Bildergalerie:
Eines Tages 1993 wartete Klaus Fabian dann noch mit den "Naturgeschichten" auf, einer fiktionalen Erzählung, in der die Erfahrungen und Entdeckungen aus dem Projekt und dessen Vorgeschichte literarisch verarbeitet werden. Ich selbst finde mich übrigens unter den Protagonisten der fiktiven Handlung als ein Herr Winterberg aus Flensburg wieder.
Einiges von damals möchte ich aber doch hier einstellen, zum Beispiel einen recht informativen Text für die damaligen Ausstellungen und Matineen. Zum einen gebe ich dort (S. 5ff) genauer als im Vorwort der Partitur Einblick in meine Vorgehensweise bzw. meine Marotte, symmetrische (palindromische) Reihen zu verwenden und nach einer speziellen Methode zu vertauschen. Vor allem aber habe ich darin versucht, einmal ganz allgemein die Regeln der klassischen Zwölftontechnik knapp und doch ohne die vielen Ungenauigkeiten und Mißverständlichkeiten zu skizzieren, denen man in ähnlichen Abrissen oft begegnet:
Hier die Partitur:
Die folgende Einführung in die Musik der Lucanus Projektion entspricht derjenigen, die ich auch in die Partitur hineingenommen habe. Da sie nicht so lang ist, steht sie auch
hier.
Was steckt hinter dem Namen LUCANUS PROJEKTION ?
Und was hat es mit den skurrilen Käfern auf sich?
Ich habe dieses Stück im Jahre 1989 komponiert, und zwar als musikalisches Pendant zu einer Reihe sehr ausgefallener Graphiken des
Essener Künstlers und Insektenkundlers
Klaus Fabian.
Dabei sind die Bezüge zwischen Klang und Bild immerhin so komplex und so ungewöhnlich, daß sie nur dargestellt werden könnten,
wenn dabei die Sache selbst – hier also die klingende Musik – in den Hintergrund gedrängt würde. Andernorts ist das geschehen.
Hier aber möchte ich diese komplexen Zusammenhänge nicht bis ins letzte erklären, sondern nur glaubhaft machen, daß sie
existieren.
Auch wirkt die Musik trotz oder gerade wegen ihrer besonders ausgearbeiteten Zwölftonstruktur harmonisch so traditionell, daß sie
gerne fälschlich für Spätromantik oder fin de siècle gehalten wird und ohne Hintergrundwissen „genießbar“ ist.
Trotzdem, wenigstens soviel:
„LUCANUS“ – genauer „LUCANUS CERVUS" ist der lateinische Name des europäischen Hirschkäfers. Diese Namen (Hirsch~, cervus) verdankt das Tier seinem „Geweih“, das ist der durch die Evolution extrem vergrößerte (und
als Beißwerkzeug unbrauchbar gewordene) Oberkiefer. Mit dem unproportionalen Körper des Hirschkäfers wollte Klaus Fabian den amerikanischen Architekten György Doczi widerlegen, der behauptet, die Natur schaffe überall geometrisch ästhetische, wohlproportionierte Formen, vorzugsweise
nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts*.
Der Goldene Schnitt schien in der Tat (um nicht zu sagen „beileibe“) keine Rolle zu spielen. Wohl aber erwies sich eine Strecke – nämlich die Breite des Hinterleibs – als ein sogenanntes „Modul“, d.h. als Ausgangsgröße, aus der alle anderen
Strecken abgeleitet werden können. Eine der zahlreichen Konstruktionen (nämlich die von mir „vertonte“) arbeitet mit dem Quadrat über dieser Modulstrecke. Die Diagonale dieses Quadrates ergibt
die Länge des Hinterleibs, die Diagonale des halbierten Quadrates entspricht der Länge und der Breite des Kopf-Brust-Teils und wird so zur Grundseite eines weiteren Quadrates.
Dessen Diagonale wiederum ist von Belang für die Maße des Geweihs.
Um analog zu dieser Konstruktion auch kompositorisch mit einem Modul und dessen Ableitungen zu arbeiten, habe ich eine Zwölftonreihe gebildet (übrigens eine mit allen 11 möglichen Intervallen),
die symmetrisch ist.
Symmetrisch heißt hier: Es gibt keinen Unterschied zwischen der Reihe und ihrem Krebs.
Wir haben also das Paradox einer Folge von 12 verschiedenen Tönen vor uns, die vorwärts und rückwärts gleich ist!**
Das läßt sich natürlich auch an der Umkehrung*** der Reihe demonstrieren, etwa gleich zu Beginn des Stücks in den ersten sechs Takten der Flötenstimme:
Die vier Gestalten (manche sagen „Modi“) der Reihe, also die Grundgestalt (oder „Recte-Form“) mit ihren drei Spiegelungen (Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung) entsprechen musikalisch den vier
Seiten des Modulquadrates.
Nun habe ich herausgefunden – vermutlich nicht als der erste oder als der einzige Mensch auf der Welt – aber immerhin, ich hab’s herausgefunden:
Es gibt ein Verfahren, symmetrische Reihen so zu permutieren (d.h. die Töne zu vertauschen), daß zwangsläufig wieder symmetrische Reihen entstehen.
Das funktioniert nämlich, wenn zunächst die Töne Nr. 1, 3, 5, 7, 9 und 11 (also die ungeraden) aufeinanderfolgen, und dann Nr. 2, 4, 6, 8, 10 und 12 (also die geraden):
Diese Permutationen (und die Permutationen der Permutationen...) sind mein musikalisches Pendant zu den Diagonalen der geometrischen Konstruktion:
Die Form des Stücks folgt den Schritten der Konstruktion: vom Hinterleib (Takt 1–33) über den Kopf-Brust-Teil (Takt 34-49 und 50–75) bis zum „Geweih“ (Takt 76–100).
Wie dabei die entsprechenden „Diagonalen“ aus dem Reihenmaterial herausgeschält werden, das soll wie gesagt hier nicht genau analysiert werden.
Aber: Wo eine Reihe mit ihrer „Diagonale“ verwoben wird, gibt es ein hörbares Symptom, auf das ich doch hinweisen will, nämlich einen Wechsel von einzelnen und oktavverdoppelten Tönen: Eines der
Beispiele dafür, daß das Konstruktive in diesem Musikstück nicht, wie zu erwarten, traditionelle Klangwirkungen (wie Oktaven) verhindert, sondern sie im Gegenteil begünstigt. Ein anderes Beispiel
für dieses Phänomen: Die Reihe enthält (wie übrigens auch die meisten ihrer Permutationen) zwei traditionelle Dreiklänge:
Das ist bei symmetrischen Reihen kein Zufall.
Die reihentechnische Struktur des Stücks ist insofern das Wesentliche, als sie unmittelbar die geometrischen Zusammenhänge aufgreift und so die ungewöhnlich nahe Verwandtschaft zwischen Graphik
und Musik herstellt.
Ich will aber wenigstens erwähnen, daß die Komposition nebenbei und über die Zwölftonstruktur hinaus auch noch auf eine ganz simple und sinnfällige Weise auf die Körperformen des Lucanus cervus
Bezug nimmt:
Im Abschnitt von Takt 50-75 (der dem Kopf des Hirschkäfers entspricht) schraubt sich die Melodik der Flötenstimme stetig aus tieferer Lage ins hohe Register, während umgekehrt das Klavier in
immer tiefere Lagen vordringt. Dieses Auseinanderlaufen der beiden Instrumente von der Mittellage aus wiederholt sich ähnlich in den Takten 76-100, die dem „Geweih“ entsprechen.
In beiden Fällen steht es für die Tatsache, daß die Vorderhälfte des Käfers vom Hinterkopf an deutlich breiter ist als der Hinterleib. Beim erstenmal für die breiteste Stelle des Kopfes, beim
zweitenmal für die breiteste Stelle des ganzen Käfers, das Geweih.
Klaus Fabian hat – in der Absicht, sie zu widerlegen – Harmonie nachgewiesen, wo sie kaum zu erwarten war. Unerwartete Harmonie beweisen – und darüber hinaus glaubhaft machen, daß Musik zugleich
Tradition und Moderne, Gefühl und Verstand, Intuition und Konstruktion sein kann: So etwa möchte ich meine Beweggründe beim Komponieren der LUCANUS PROJEKTION
beschreiben, wofern das kleine Stückchen Kammermusik soviel Pathos rechtfertigt.
(Köln, November 2005)
* Der Goldene Schnitt teilt eine Strecke so in zwei Teile, daß sich der kürzere Teil (a) zum längeren (b)
verhält wie dieser zur ganzen Strecke (a+b), also a : b = b : (a+b) oder
„kurz : lang = lang : ganz“
** Man spricht vom „Krebs“ einer Zwölftonreihe, wenn sie rückwärts durchlaufen wird.
Genaugenommen ist die Reihe der LUCANUS PROJEKTION natürlich nicht mit ihrem Krebs
identisch, sondern mit ihrem um einen Tritonus transponierten Krebs.
*** In der „Umkehrung“ wird eine Zwölftonreihe in der Weise gespiegelt, daß aus fallenden
Intervallen steigende werden und
umgekehrt.