II. STRAWINSKY und der Ragtime

[O-Ton STRAWINSKY: teils deutsch, teils englisch mit deutschen Untertiteln.
Auf die Transkription der Einwürfe des Interviewers Rolf LIEBERMANN wird bei dieser
Passage des Filmdokuments verzichtet]:
 „I like very much this chord...
Ich mag sehr diesen Akkord...
When I played it in Venice the first time to Diaghilew, he said:
Als ich ihn in Venedig zum erstenmal Diaghilew vorspielte, sagte er:
[deutsch] ,Wird es lange dauern?‘
Ich sage: ,So lange, wie es interesting ist‘ – as long as it’s interesting.
The interest of it was, you know, of course the chord,
Das Interessante daran war natürlich der Akkord als solcher,
a rather new chord,
ein ziemlich neuer Akkord,
eight notes chord
ein achtstimmiger Akkord
but accents were even more new
aber noch neuartiger waren die Akzente
and accents were really the foundation of the whole thing, that’s good...“
und die Akzente waren wirklich die Grundlage der ganzen Sache...
[OFF]:
Wovon ist hier die Rede?
Igor Strawinsky, 1965, als das Interview gedreht wurde, bereits 83 Jahre alt, erinnert sich an die Entstehungszeit seines Sacre du Printemps, uraufgeführt in Paris 1913 – fünf Jahre vor Debussys Tod.
Und das ist der achtstimmige Akkord, den er erläutert:
Neu an diesen und ähnlichen Klängen ist die sogenannte Bitonalität.
Wie wir sahen, werden Akkorde, die zusammen ein vieltöniges und dissonantes Material abgeben, schon bei Debussy unvermittelt nebeneinander gestellt – aber eben nebeneinander.
Strawinsky geht einen Schritt weiter, indem er sie zu clusterartigen Gebilden übereinander
schichtet. Der Klang aus dem Sacre besteht aus zwei Durdreiklängen,
Fes-Dur
und Es-Dur (Es 7, um genau zu sein), deren Grundtöne um eine kleine Sekund, eine scharfe Dissonanz also, voneinander entfernt sind.
[O-Ton STRAWINSKY: wieder teils deutsch, teils englisch mit deutschen Untertiteln]:
I adore dissonances ! I adore dissonances ! I adore dissonances !
Ich liebe Dissonanzen über alles!
But, you know: and I fürchte consonances. Es ist viel schwerer, interessant zu sein in
consonant music als in dissonant music. Viel schwerer! Und ich zahle sehr viel dafür, daß ich eine gute consonant music schreiben kann!

[OFF:] Die interessantesten Dissonanzen kommen auch in der Piano-Rag-music von 1919 durch Bitonalität zustande.
Wenige Augenblicke nach dieser Stelle spielt die rechte Hand Fis-Dur, dazu spielt die linke Hand C-Dur; das ist die Tonart, die mit Fis-Dur am wenigsten verwandt ist.
Was für Debussy der Cakewalk, das ist für Strawinsky der Ragtime.
Wo liegt der Unterschied?
Wie gesagt, die Cakewalk-Synkope berührt in der Regel nur eine unbetonte Zählzeit wie die „Zwei“. Dagegen hat der Ragtime à la Scott Joplin schon den im Jazz so wichtigen Off-beat,
das Verlagern von Melodieakzenten vor die betonten Zählzeiten des Taktes – vor die „Eins“, noch häufiger vor die „Drei“.
In der traditionellen E-Musik Europas waren vielerlei Synkopen keine Seltenheit, off-beat-Phänomene aber die Ausnahme.
Die Rhythmik des Jazz unterscheidet sich deutlich von der europäischen.
Sie unterscheidet sich aber kaum minder deutlich von den komplexen Rhythmen jener Afrikaner, die bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein millionenfach geraubt, nach Amerika deportiert und, vorausgesetzt, sie überlebten die Überfahrt, dort versklavt worden waren.
Der Jazz lebt von der Spannung zwischen off-beat und beat, also zwischen den vom Metrum weg zielenden, meist vorpreschenden Melodieakzenten und dem Metrum selbst, das weißen, also europäischen Ursprungs ist.
Damit die unverwechselbare Wirkung von off-beats sich einstellt, muß der beat als fester Bezugsrahmen deutlich präsent sein. Darum sind Temposchwankungen oder Taktwechsel im traditionellen Jazz selten.
Was Strawinsky betrifft, so bietet sich hier ein Vergleich zweier Kompositionen an:
Der Piano-Rag-Music für Klavier und des Ragtime für elf Instrumente.
Den hat er zwar auch für Klavier bearbeitet; das ändert aber nichts daran, daß ihm die Originalbesetzung für die titelgebenden elf Instrumente sehr am Herzen gelegen haben muß.
Beim Vergleich soll daher zwar die Rhythmik im Vordergrund stehen, denn, was er über den Sacre sagt – „Accents were really the foundation of the whole thing“ – , das trifft auch hier zu.
Dennoch: der ungewöhnlichen Originalbesetzung gebührt besonderes Augenmerk und darum wohl auch der Vorrang gegenüber der Klavierfassung.
Das Instrument, das ein bißchen wie ein malträtiertes Kneipenklavier klingt und wohl auch klingen soll, ist ein ungarisches Cimbalom, in der bayerisch-österreichischen Volksmusik auch als „Hackbrett“ bekannt.
[O-Ton STRAWINSKY, deutsch]:
Ich konnte Cimbalom spielen !

(LIEBERMANN Ja?)
Oh yes!     

(LIEBERMANN Like this?)
Ich hab‘ es gekauft in Genf.

(LIEBERMANN Ah ja!?)
Ich hab‘ es gekauft. Für anderthalb tausend Franken.

(LIEBERMANN Das war viel Geld damals.)
Viel Geld, aber ich hab‘ es gekauft. Und ich hatte es mehrere, mehrere Jahre gehabt.
Wenn ich mehr das nicht brauchte, ich habe Debussy das gezeigt, in Paris. Und der war entzückt, und er hat auch etwas geschrieben für Cimbalom. Nie aber, man kann nicht finden
jemanden, der das spielt. Da hab‘ ich selbst gelernt, das zu spielen. Ich hatte einen teacher
(der ist längst gestorben), habe verschiedene Hämmerchen gehabt.
[OFF]:  Der Ragtime für elf Instrumente ist durchweg im Viervierteltakt notiert. Das muß bei Strawinsky noch nicht viel heißen, aber in diesem Fall hält der Grundrhythmus, was die Taktangabe verspricht, und das aus gutem Grund, denn, wie gesagt:
Eine Synkope kommt am besten als Abweichung von der Norm zur Geltung, wenn auch die Norm selbst wahrnehmbar ist. Mit anderen Worten: Ohne Time kein Ragtime, was übersetzt ja soviel heißt wie „zerfetzte“, „zerrissene Zeit“.
Strawinskys rhythmische Freiheiten wie auch seine Dissonanzen basieren oft nicht wie bei Schönberg und dessen Schule auf wahrer Emanzipation und Autonomie, sondern sie sind Eskapaden.
Wie in einem kubistischen Bild, in dem die Gegenstände, die es verformt und zerbricht, noch identifizierbar bleiben, so kann man Strawinskys Dissonanzen ansehen, welche Konsonanzen mit ihnen verhindert werden. Und die rhythmischen Kapriolen wirken, weil die Taktordnung, die sie unterlaufen, ebenfalls gegenwärtig ist. Jedenfalls mindert der Viervierteltakt nirgends die Freude am Bruchstückhaften und Diskontinuierlichen, an Collage und Verfremdung, die den Ragtime für elf Instrumente charakterisiert.
In der Piano-Rag-Music liegen die Dinge etwas komplizierter:
Schon im Notenbild fällt auf, daß das Stück, abgesehen von vielen Taktwechseln, über weite Strecken ganz ohne Taktstriche notiert ist. Das liegt an gezielt plazierten Stolperern der Melodie, die immer wieder – durch eine überschüssige Achtel hier oder eine fehlende Viertel dort – gegen den unverdrossen gehämmerten Beat verschoben wird: So weitreichend, daß es müßig wäre, für das resultierende rhythmische Gefüge eine einheitliche Schreibweise finden zu wollen.
Solche Eskapaden bringen das rhythmische Geschehen empfindlicher durcheinander als die gängigen Ragtimesynkopen. Die gibt es in diesem Stück zwar auch, besonders gegen Ende, allerdings doppelt so schnell wie der Rest – als hastige Sechzehntelfiguren über einem Achtelbeat, so daß sie nicht wie die Auflockerung und Belebung einer schreitenden Bewegung wirken, sondern hektisch, nervös, atemlos.
Strawinsky hat das Stück dem Pianisten Arthur Rubinstein gewidmet.
[O-Ton Arthur RUBINSTEIN, deutsch]:
Er hat ein Stück geschrieben  – das war die Zeit des ersten Jazz in Amerika – und das hieß
Ragtime, Piano-Ragtime. Hatte er wunderbar auskopiert, selbst rein wunderbar geschrieben,
mit Blümchen draufgemalt und kaligraphisch, nicht wahr, mir dediziert. Und schickte es mir nach Amerika, während meiner Tournee, in, glaube ich, 21, im Jahre 21. Ich war ganz stolz, nicht wahr, darauf ...
[OFF]:
...stolz, aber auch befremdet von Strawinskys antiromantischer Haltung, und, wenn ich das richtig weiß, so hat Rubinstein das Stück letztlich abgelehnt mit der Begründung, er brauche keine „Rhythmus-Etüde“.
Vielleicht hat Rubinstein sich genau an jener nervösen Unerbittlichkeit der Piano-Rag-Music gestört, die Adorno veranlaßt hat, Strawinsky ausnahmsweise zu loben.
Ausnahmsweise insofern, als Strawinsky bei Adorno unterm Strich kaum besser wegkommt als Jazz und populäre Musik. Und die lehnt er ab, ...
[O-Ton ADORNO]:... weil die ganze Sphäre der Unterhaltungsmusik, auch wo sie irgendwie modernistisch sich aufputzt, so mit dem Warencharakter, mit dem Amusement, mit dem Schielen nach dem Konsum verbunden ist, daß also Versuche, dem eine veränderte Funktion zu geben, ganz äußerlich bleiben. Und ich muß sagen, wenn also dann irgend jemand sich hinstellt und auf eine im Grunde doch schnulzenhafte Musik dann irgendwelche Dinge darüber singt, daß Vietnam nicht zu ertragen sei, dann finde ich, daß gerade dieser Song nicht zu ertragen ist, weil er, indem er das Entsetzliche noch irgendwie konsumierbar macht, schließlich auch daraus noch etwas wie Konsumqualitäten herauspreßt.
[OFF]: ...Ausnahmsweise auch insofern, als er, nicht zuletzt durch den Kompositionsunterricht bei Alban Berg, dem Schönbergkreis nahestand und auf dessen Fortschrittlichkeit auch pochte, um seine Vorbehalte gegen Strawinsky zu begründen.
Aber, wie gesagt, der Ragtime für elf Instrumente und die Piano-Rag- Music fanden seine Gnade, gehören für ihn zu Strawinskys gelungensten Stücken.
Im populären Jazz lassen, so Adorno, die Synkopen dem Menschen nur zum Schein individuelle Freiräume und Schlupfwinkel. Sie bleiben dem starren Taktschema als unerbittlich und autoritär überwachtem Zeitmanagement unterworfen.
Wenn die Melodierhythmik innerhalb der Taktordnung synkopisch ausbüxt, so ist das für Adorno nur ein Aufmucken, dem die Bereitschaft sich zu ducken, schon innewohnt.
Mag das Inhumane im populären oder, wie  Adorno sagt, „naiven“ Jazz durch Reste von Sentimentalität und falscher Individualität überdeckt werden – in der Piano-Rag-Music von Strawinsky lassen die erbarmungslos gehämmerten, aber auch durch Stolperer und Ausraster sich überschlagenden Rhythmusfloskeln die Unmenschlichkeit der industrialisierten Massengesellschaft zutage treten.
Adorno (und so weit ich weiß, niemand außer ihm) behauptet übrigens auch, das Stück sei für mechanisches Klavier geschrieben.
Auch falls das nicht stimmt, weil es ja immerhin einem leibhaftigen Pianisten gewidmet ist: die Piano-Rag-Music muß abschnurren wie eine Maschine. Ohne Stillstand und ohne Seele.
Und sie verkörpert so das genaue Gegenteil der Musik Schönbergs, Bergs und Weberns – auch zu der von Adorno –,  in der Wagners romantische Expressivität zum Expressionismus gesteigert wird.
[O-Ton STRAWINSKY mit LIEBERMANN, englisch und französisch mit deutschen Untertiteln]:
LIEBERMANN ...all the same I’m astonished that you have Wagner in your studio.
Ich bin erstaunt, daß Sie Wagner in Ihrem Arbeitszimmer haben
STRAWINSKY     I have not only in my studio
Nicht nur in meinem Arbeitszimmer

I have Wagner in my head
Ich habe Wagner in meinem Kopf.       

I have very often Wagner in my ears

Ich habe sehr oft Wagner in meinen Ohren,
which is maybe also in mey head.
und das heißt ja vielleicht, auch in meinem Kopf.
And I think very much about Wagner today.
Und ich denke heute sehr viel über Wagner nach,
much more than I thought maybe twenty years ago.
viel mehr als noch vor vielleicht zwanzig Jahren.
LIEBERMANN  Yes, you were in a revolutionary stade then when you were against him..
Na ja, damals waren Sie ja auch in einer revolutionären Phase, als Sie gegen ihn waren!               
STRAWINSKY  I was against him for right reasons.
             Ich war aus gutem Grund gegen ihn,
             As I am for him now – also for right reasons.
             und jetzt, wo ich für ihn bin, habe ich wieder gute Gründe!    
LIEBERMANN  I see: only a wise man changes his mind
             Ich verstehe: Nur ein weiser Mann ändert sein Denken.
STRAWINSKY  Even not „change“: it adds.
            „Ändern“ trifft es noch nicht mal: Es kommt hinzu!
LIEBERMANN It adds !
STRAWINSKY  Ja!
LIEBERMANN  That‘s good!         
[OFF]:
ES ist sicher kein Zufall, daß sich Strawinsky etwa zur selben Zeit, in der er seine Ablehnung gegenüber Wagner überdenkt, Schönbergs und Weberns Zwölftontechnik zuwendet.
 [O-Ton STRAWINSKY]:
...I‘m very close to Webern,
Sehr nahe stehe ich Webern,
much closer than to Schoenberg       
viel näher als Schoenberg.
I have immense respect for Schoenberg,
Ich habe eine immense Hochachtung vor Schoenberg,
but, you know, I have not immense love as I have for the
Aber ich habe zu ihm nicht die immense Liebe wie zu den...
variations of Webern.
[Bildunterschrift]: WEBERN  [Clip-Unterschrift]: Variationen op.27
[OFF]: Ein Ergebnis von Strawinskys Nachdenken über Wagner lautet:
[O-Ton STRAWINSKY – englisch, dann französisch]:
A great musician couldn’t do bad things – couldn’t do ! [Liebermann grummelt skeptisch.]
Ein so großer Musiker konnte gar nichts Böses tun!
But I thought about, only about the ...[französisch]:...le mal qu’il faisait à certaines choses.
Dabei habe ich aber nur an den Schaden gedacht, den er bestimmten Dingen zugefügt hat.
[LIEBERMANN, weniger skeptisch]: Oui...