Collage über die Unfähigkeit zu trauern

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Die nachstehende Werkeinführung habe ich Jahre vor meinem Beitrag zu dem im September    2020 im Gießener Psychosozial-Verlag erschienenen Sammelband "Prinzip Infektion"(ISBN-13: 978-3-8379-2965-2) geschrieben. Erst später wurde mir bewusst, dass dieser Buchbeitrag Fakten und Zusammenhänge offenbart, die ich beim Verfassen des Folgenden noch nicht kannte. Bei dieser Komposition handelt es sich um eine heikle Angelegenheit. Dies zum einen, was die Frage betrifft, ob ein Stück, das ausschließlich aus (zwei) Zitaten besteht, als Komposition im Sinne einer eigenschöpferischen Leistung angesehen werden darf. Ich bin zwar, wie ich es etwa in den Erläuterungen zu meiner »Zweihnachtsmusik« oder noch deutlicher in denen zur »Sinfonietta« dargetan habe, der Überzeugung, daß das simultane Aufschichten vorgegebener Materialien meist ein schwierigeres Unterfangen ist als die freie »Erfindung« von Melodien, wie sie das naive Bewußtsein als Kernaufgabe des Komponisten erachtet.

Erschwerend kommt hinzu, daß ich die verwendeten Zitate hier nicht als Notenfolge heranziehe und mit einer selbstgestrickten Harmonisierung versehe, sondern als Audiomaterial so übernehme, wie es im Internet als Youtube-Videos zu finden war. Ich habe lediglich das Tempo und die Tonlage (Tonart) manipuliert und die  Materialien zeitlich so untereinander plaziert, daß sich ein nach traditionellen (tonalen) Kriterien funktionierendes Quodlibet ergibt.

Daß Quodlibets zu meinen Marotten gehören, kann dem Besucher meiner Homepage, der hier ein bißchen herumstöbert, kaum entgehen.

Ein heikle Angelegenheit ist diese Kom-position aber zum anderen und noch viel mehr dadurch, daß eines der beiden Zitate das barbarische, zu Recht verbotene Horst-Wessel-Lied ist, das wie kein zweites den Zivilisationsbruch des Naziregimes musikalisch symbolisiert. Das tut es ja im übrigen sogar »offiziell«, indem es in der Hitlerzeit als Anhängsel der Nationalhymne verwendet wurde.

Gerade darum aber fand ich es so skandalös und so irritierend, daß ich glaubte, daraus »etwas machen« zu sollen, als ich eine verstörende Entdeckung machte. Ich muß etwas ausholen:

Die Adenauerzeit hat nicht nur mich (ich bin Jahrgang 1955) hervorgebracht, sondern auch das, was Ralph Giordano die »zweite Schuld« genannt hat: Gemeint ist die Tatsache, daß viele, die in der Nazizeit Karriere gemacht hatten, in der jungen Bundesrepublik wieder zu »Ehren« kamen. Berühmtes, oft genanntes Beispiel ist der Jurist Hans Globke.

Was ich entdeckt habe (und es fällt mir schwer zu glauben, daß niemand sonst das bemerkt haben soll): Die Generation, die 1933 jung war und »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen« grölte, fand in der Adenauer-Zeit größtes Gefallen an dem Lied »So ein Tag, so wunderschön wie heute«. Besser gesagt: SEIT der Adenauer-Zeit, denn, wenn mich nicht alles täuscht, gehört es bis heute zu den beliebtesten Stimmungsliedern schunkelnder Kleinbürger.

Ich finde die Ähnlichkeit zum Horst Wessel-Lied so frappant, daß ich größte Zweifel hege, ob ich wirklich der einzige bin, dem sie aufgefallen ist. Ich gestehe, das Buch der Mitscherlichs mit dem Titel »Die Unfähigkeit zu trauern« nie gelesen zu haben. Vom Hörensagen glaube ich aber zu wissen, daß es dort um Ähnliches geht.

Mir scheint die psychoanalytische Konnotation dieses Buchtitels geeignet, um meine Collage nach ihm zu benennen und so meiner Vermutung Ausdruck zu geben, der Erfolg dieses Karnevalsschlagers sei vielleicht dadurch zu erklären, daß die Ähnlichkeit zum Horst-Wessel-Lied, das von heute auf morgen von der Hymne zum Tabu geworden war, nicht bewußt wahrgenommen, sondern subkutan gespürt wurde.

Man konnte die Schuld verdrängen, sich mit dem Verbot des Schmuddelliedes arrangieren, weil man einen gesellschaftsfähigen emotionalen  Ersatz gefunden hatte (vgl. dazu das nachstehende Postskriptum).

Dies alles läßt mich glauben: Die Collage darf ich nicht nur publik machen, ich sollte es sogar wie eine Art Pflicht sehen, es zu tun. Das einzige, was mich neben juristischen Belangen, die ich nicht übersehen kann, von der Publikation hätte abhalten können, ist das Unbehagen angesichts der Tatsache, daß die Entdeckung in gewisser Weise »verschenkt« wird, wenn nur die Collage selbst dargeboten wird, sie also nicht Teil einer größeren Unternehmung ist.

Wenn ich einmal anmaßend sein darf: Warum verwende ich sie nicht als eines von vielen Mosaiksteinchen eines Werkes nach dem Vorbild von Großtaten wie Zimmermanns »Requiem für einen jungen Dichter«? Wahrscheinlich, weil mir für derlei Großtaten das Genie und der Atem fehlt. Darum ist hier »nur« die Collage selbst zu hören. Der Gedanke, irgendwann einmal etwas Größeres daraus zu machen, läßt mich aber nicht los...

Noch ein technischer Hinweis: Die Audiodatei ist so gestaltet, daß in extremer Weise die Möglichkeiten der Stereophonie genutzt werden. So ist es möglich, mit dem Balanceregler Ihres Abspielgeräts nach Gutdünken die Gewichtung zugunsten des Nazi- bzw. des Karnevalsliedes zu verändern.

Download
Uli SCHAUERTE Collage über die Unfähigkeit zu trauern (Audiomontage)
Material: "So ein Tag, so wunderschön wie heute" / "Horst-Wessel-Lied"
Collage über die Unfähigkeit zu trauern.
MP3 Audio Datei 1.3 MB

Postskriptum, 29. September 2018

Heute habe ich Lotar Olias (1913 - 1990) gegoogelt, den Namen des Mannes, der »So ein Tag [...]« komponiert hat. Was ich bislang als Vermutung vorbrachte, erhärtet sich zum belastbaren Faktum. Und – wenn ich bislang die Wirkung der Schlagermelodie auf das Gemüt der schunkelnden Wehrmachtsgeneration vorsichtig als »subkutan« eingeschätzt habe – so scheint die Biographie des Komponisten zu belegen: Der zumindest muß diese Ähnlichkeit gezielt und bewußt ins Kalkül gezogen haben. Ich habe auch festgestellt: Gibt man als Suchbegriff »Lotar Olias Horst Wessel« ein, kommen fast 4000 Suchergebnisse. Ich gehe nicht davon aus, daß ich allen nachgehe, aber doch davon, daß ich nun doch nicht der einzige bin, dem die Zusammenhänge – notabene bewußt und keineswegs bloß subkutan – aufgefallen sind. Eigentlich gut zu wissen, oder ? Was ich überlege: Den Titel meiner Collage dergestalt zu ändern, daß sie eine Chance hat, von anderen googelnderweise gefunden zu werden. Der Nachteil könnte sein, daß meine Erkenntnisse in Zeiten von AfD, Pegida & Co. von der rechten (also UNrechten) Seite begrüßt und instrumentalisiert werden. Gerade fällt mir auf: »Subkutan« klingt nach einer abgeschwächten Wahrnehmung, weniger scharf und intensiv als eine bewußte. Übersetzt man das Adjektiv aber wörtlich mit »unter die Haut gehend« kommt eine Metapher heraus, die im Deutschen gerade für eine besonders intensive Empfindung steht...