III. MILHAUD

[OFF]:   Dieser kleine Cakewalk von 1904 stammt von dem Herrn, der gerade von links ins Bild hüpft: Es ist Erik Satie, Jahrgang 1866. Satie galt im Paris der frühen zwanziger Jahre als eine Art Vaterfigur für jenen Kreis damals junger Komponisten, der als „groupe des six“ bekannt wurde.
Dieser kleine Shimmy von 1921 stammt von dem Herrn, der gerade von rechts aus der Tür kommt: Es ist Darius Milhaud, Jahrgang 1892. Milhaud galt neben Arthur Honegger und Francis Poulenc als der vielleicht wichtigste Vertreter dieser Gruppe.
Die groupe des six war keine Institution.
Was die sechs Musikerpersönlichkeiten nach dem ersten Weltkrieg zusammenführte, war trotz mancher Berührungspunkte kein ästhetisches Programm, sondern in erster Linie Sympathie. Gut vier Jahrzehnte später, mit über siebzig, beschreibt Milhaud das mit dem Wort ...
[O-Ton Milhaud, immer französisch]: ...amicale
                       ...freundschaftlich !   
C’est un critique qui a fait après un concert un article qui s’appelle „les six français“ („les cinq russes“ et „les six français“). Alors on a dit: bon, nous sommes les six, bon, bravo, bonjour les six . Mais c’était un groupe basé sur l’amitié mais non pas sur l’esthétique.
Qu’est-ce qui peut être plus différent que la musique de Poulenc et celle d’Honegger ou celle d’Auric et la mienne?
INTERVIEWER Mais vous insistez aussi dans votre livre sur un autre point – il faut peut-être toujours rappeler –
Sie schreiben an anderer Stelle – vielleicht sollte man das nicht vergessen:
c'est que ce groupement en six n'impliquait pas que vous faisiez la même musique.
Der Zusammenschluß zu sechst heißt nicht, daß alle die gleiche Musik machen !
MILHAUD
Mais non, mais bien entendu: un groupement amical c'est pas un groupement esthétique.
Nein, wohlgemerkt: Ein Freundeskreis ist kein ästhetischer Zirkel.
Par conséquent nous sommes tous très différent:
Wir sind ja auch alle sehr verschieden:
Moi, je suis d'influence méditerranéenne,
Bei mir kommt das Mdeiterrane durch,
Arthur Honnegger qui était suisse d'origine de Zurich était plus poussé vers les traditions
germaniques,
bei Arthur Honnegger mit seinen Züricher Eltern die deutsche Tradition,
Francis Poulenc et Georges Auric, c'était d'avantage le folklore de Paris,
bei Francis Poulenc und Goerges Auric die Pariser Folklore
et Germaine Tailleferre était vraiment dans la tradition de Monsieur Ravel.
und bei Germaine Tailleferre die Tradition von Herrn Ravel.
Par conséquent, nous allions tous dans des chemins différents - heureusement !
Und so ging jeder eigene Wege - zum Glück !
Non, vous savez, en effet, c'est une petite mise au point qu'il faut faire de temps en temps:
Nein, wissen Sie - man muß das ab und zu klarstellen:,
Après la première guerre, dans cette période d'euphorie où on croyait que la paix était assurée
pour toujours et que tout le monde était heureux,
In der Euphorie nach dem I.Weltkrieg dachte man, der Friede hält ewig, und war froh.
les jeunes musiciens de ce temps-là (naturellement les mêmes générations ça se groupe
toujours,
Junge Musiker bildeten Clübchen – wir waren ja auch gleich alt.
alors nous avons donné quelques concerts, mais sans avoir jamais eu l'idee de nous compter
Wenn wir Konzerte machten, war's uns doch egal, wieviele wir sind,
parceque il y a eu des programmes où il y avait sept ou huit noms inscripts dessus
auf dem Programm standen oft 7 oder 8 Namen!
Auch in einem der letzten Interviews sagt Milhaud:
La plus belle époque que j'ai vécu c'est l'époque de 1920, tout cela après guerre.
Für mich war die schönste Zeit um 1920, direkt nach dem Krieg.
Alors là, il y avait un espèce d'optimisme. On croyait – on avait tort, bon dieu! – que ça
serait la dernière des guerres.
Man war irgendwie optimistisch, dachte: das war der letzte Krieg – von wegen !
Et alors, on était détendu, on pouvait travailler dans la joie, c'était merveilleux !
Man war gelöst, arbeitete mit Freude. Das war wunderbar.
Die 20er Jahre bescherten Milhaud Lebensfreude und prägende Erlebnisse. Zum Beispiel
seine erste begegnung mir dem Jazz. 1920 trat in London trat in London Billy Arnold's
American Novelty Jazz Band auf . Unter den Zuhörern ein beeindruckter Darius Milhaud.
Die roaring twenties nwraen also prägend, aber die Jahre vor dem Krieg und während des
Kriegs waren es auch.
Milhaud kam aus der Provence, aus einer alten jüdischen Familie.1909. Mit siebzehn, zog er
nach Paris. Felix Weingartner dirigierte dort den Ring des Nibelungen, und Milhaud ging
hin. Dann ließ er sich von seinem Cousin in den Tristan schleifen und auch noch den Parsifal
über sich ergehen. Aber dann war Wagner, der damals schon ein Vierteljahrhundert tot war,
für Milhaud endgültig gestorben. In seinen Memoiren ist es nachzulesen.
Er fand Wagners Musikdramen sterbenslangweilig, abstoßend, anmaßend, aufgeplustert und
vulgär. Ziemlich wörtlich schreibt er:
„Mein lateinisches Herz konnte einfach mit dem ganzen philosophischen Blabla, dem ganzen
mystischen Blech nichts anfangen.“
Milhaud konnte nicht ahnen, daß in diesen Jahren auch ein junger Österreicher, nur drei
Jahre älter als er selbst,aus der Provinz nach Wien gezogen war, und dort in gleichen
Wagneropern so ganz andere Schlüsselerlebnisse hatte.
Adolf Hitler, so hieß dieser junge Österreicher, glaubte nämlich, in Wagners Werk Parallelen
zum eigenen monströsen Weltbild zu entdecken. Soviel steht fest: Wagner war in der Tat ein
übler Antisemit. Die wenigen Witzfiguren auf seiner Bühne sind unschwer als ziemlich böse
Judenkarikaturen dechiffrierbar. Alberich, Mime, Beckmesser – eben all die
Zurückgewiesenen, wie Adorno sie nennt. Aber damit, und auch mit dem berüchtigten
Pamphlet über das „Judenthum in der Musik“ von 1850 hatte der Komponist bei aller
Boshaftigkeit sicher nicht im Sinn,posthum zum Komplizen oder auch nur zum Vordenker
des unbegreiflichsten aller Menschheitsverbrechen gestempelt zu werden. Daß Bayreuth und
daß der Name Wagner mit der Nazibarbarei in Zusammenhang gebracht wird, das hatte der
tote Meister denn auch weniger den eigenen antisemitischen Entgleisungenzu verdanken, als
vielmehr dem Rassenwahn seiner Hinterbliebenen:
dem seiner Witwe Cosima, dem seines Schwiegersohns Houston Stewart Chamberlain und
dem seiner Schwiegertochter. Gerade die gehörte...
[O-Ton Winifred WAGNER]:
… mit zu denen, die unentwegt an den Führer glaubten, an die nationalsozialistische Idee
glaubten, und haben – ich kann wirklich sagen: durch dick und dünn – zu ihm gestanden.
[OFF]:
Winifred, geborene Williams, adoptierte Klindworth, verwitwete Wagner war in Hitler, den
intimen Hausfreund der Villa Wahnfried, verliebt, und sie hätte beinahe seinen Heiratsantrag
angenommen. All das entwickelte sich in den zwanziger Jahren, also in der vermeintlich so
sorglosen Zeit, die Milhaud seine schönst nannte. Weshalb er auch nicht ahnte, daß derselbe
Wagner, dessen Musik er so leidenschaftlich verabscheute, ein halbes Jahrhundert nach
seinem Tod beinahe der Schwiegersohn des Mannes geworden wäre, dessen Truppen im Juni
1940 in Paris einmarschieren würden.
[OFF (französische Wochenschau)]:
« Les armées sont arrivées à Paris. L’Allemagne triomphait vraiment... »
Szenenmaterial aus dem Spielfilm »La rafle« (F,2010) : inhaltlich entstammt es den
Szenen im Bahnhof (gare d'Austerlitz), wo die Juden von Deutschen und von französischen
Polizisten angetrieben und in Wagons gepfercht werden.
Dem Stimmengewirr sind Kommandos in beiden Sprachen („Los geht’s!“ „Einladen! Hopp
hopp!“ „Avanvez! Allez ! Avancez“ etc.) zu entnehmen.
Das jüngste Kind unter den Protagonisten (Nono Zygler, gespielt von Mathieu Di Concerto)
sagt:
„C'est même pas un vrai train!“
(Kind): Das ist ja gar kein richtiger Zug!
[OFF]:
Mihaud fiel nicht in die Hände der Mörder, weil es ihm noch gelang, mit seiner Familie über
Lissabon nach Amerika auszureisen. Nach dem Krieg stellt sich dann heraus, daß über
zwanzig von Milhauds Cousins den Tätern und den Helfershelfern des Holocaust zum Opfer
gefallen waren.
Doch zurück noch einmal vom Ende des zweiten Weltkrieges in das Paris der Jahre, als beide
Weltkriege noch bevorstanden, das Paris der deshalb gerne sogenannten „belle époque“.
1911 wurde Petruschka aufgeführt, 1913 der sacre du printemps. Und Milhaud wurde in
diesen Jahren, in denen er durch den Ring, den Tristan und den Parsifal zum
leidenschaftlichen Wagnerhasser wurde, gleichzeitig zum ebenso leidenschaftlichen
Strawinskyanhänger. Stilistisch geht denn auch vieles bei Milhaud unüberhörbar auf das
Vorbild Strawinskys zurück.
Besonders die Bitonalität, die wir schon durch den sacre und die piano-rag-music
kennengelernt haben. Es gab sie schon in Petruschka.
In den jazzähnlichen von Milhauds Klavierstücken kann man die bitonalen Passagen
manchmal ganz einfach daran erkennen, daß die linke Hand über mehrere Takte hinweg nur
schwarze, die rechte nur weiße Tasten spielt. Zum Beispiel in Caramel mou …
… oder in den drei Rag-Capricen.
[O-Ton MILHAUD]:
Ce qui était pour moi le coup de foudre et ce qui a pour moi déterminé une grande orientation
de ma vie c'était ma rencontre avec Paul Claudel.
Eins hat mich schlagartig geprägt: Die Begegnung mit Paul Claudel.
Claudel avait entendu parler de moi par Francis Jamme.
Er hatte durch F.Jamme von mir gehört.
Et quand il était consul à Francfort il m'avait écrit à Paris (j'avais vingt ans à ce moment-là)
Er war damals Konsul in Frankfurt. Er schrieb mir (ich war damals 20),
qu'il allait venir à Paris et qu'il viendrait me voir, ce qui m'a rendu absolument dans un état
d'excitation extrème:
er werde mich in Paris besuchen. Das brachte mich in helle Aufregung :
à l'idée de recevoir chez moi l'homme que j'admirai le plus au monde.
Mich besucht der Mann, den ich am meisten bewundere !
Et en effet, dès que j'ai vu Claudel et qu'il a un peu entendu ma musique, il m'a dit:
vous êtes l'homme qu'il me faut pour l'Orestie.
Er kommt, hört meine Musik und sagt: Sie sind der Mann für meine « Orestie » !
Mais tout de suite, peut-être qu'il a senti qu'il y avait en moi une force qui coïncidait avec la
sienne.
Er hat wohl sofort gespürt, daß ich eine ähnliche Kraft habe wie er selbst.
[OFF] :
Zur ersten Begegnung mit dem Dichter Paul Claudel kam es also auch in den Jahren vor dem
ersten Weltkrieg. Wenn Milhaud nach dem wichtigsten geistigen Weggefährten seines Lebens
gefragt wurde, dann war fortan seine Antwort:
[O-Ton-MILHAUD]:
Bien [?] Claudel !
[OFF]:
Claudel war Dichter, und Milhaud hat vieles von ihm vertont. Er war aber auch von 1917-18
französischer Botschafter in Brasilien, und Milhaud war sein Attaché.
Milhaud war von Brasilien sehr angetan. Zum Beispiel vom Kontakt mit dem großen
tropischen Regenwald. Oder anders ausgedrückt vom...
[O-Ton-MILHAUD]:
… contacte avec la grande forêt tropicale...
[OFF]:
…, aber auch von der brasilianischen wie überhaupt von der südamerikanischen Musik, die
seine eigene vielleicht stärker beeinflußt hat als der Jazz.
Einer der Großen aus der groupe des six, Francis Poulenc, ist sich da ganz sicher.
Poulenc gibt in seinem letzten Interview Auskunft darüber, welchen Einfluß damals Amerikas
Musik auf Frankreichs Komponisten ausübte. Welchen Einfluß hatte sie auf Poulenc selbst?
[O-Ton POULENC]:
Sur moi nulle.
Auf mich gar keinen !
Nulle.
Gar keinen!
Je sais que ça m'amusait beaucoup, que ça me fascinait,
Ich fand das auch lustig und war davon angetan,
mais enfin c'était autant Stravinsky, Satie peut-être … ont était influencé par le jazz,
aber nicht wie Strawinsky oder vielleicht Satie vom Jazz beeinflußt,
et Ravel, dans son ... dans le foxtrot de „l'enfant et les sortilèges“.
oder wie Ravel im Foxtrott aus „L'enfant et les sortilèges“ !
Quoi que ça soit, le jazz chez Ravel très Casino de Paris, très rue de Clichy. Enfin c'est...
Der Jazz bei Ravel ist schon sehr „Casino de Paris“, sehr „Rue de Clichy“...
C'est de très loin le jazz américain.
...das hat nur entfernt mit amerikanischem Jazz zu tun!
Le jazz pour moi, j'ai aimé longtemps, j'aime encore longtemps, mais ben, pour moi c'est une
chose qui ne me touche pas.
Ich selber habe Jazz gern – aber nichts damit am Hut.
[INTERVIEWER]:
Est-ce que ça eut de l'importance sur un des „six“?
Und sonst jemand von den „Six“?
[POULENC]:
Non, c'est à dire que Milhaud, c'est tout à fait différent.
Nein – das heißt, bei Milhaud ist das was anderes:
Milhaud était influencé par la musique brésilienne, n'est-ca pas?
Der war von der brasilianischen Musik beeinflußt.
C'est tout à fait le contraire du jazz américain.
Die ist aber grundverschieden vom amerikanischen Jazz.
Je sais bien que „La création du monde“ qui est un chef-d’oeuvre de Milhaud,
In der „Création du monde“, einem Hauptwerk,
et il y a quelque chose de jazz dedans, mais c'est quand-même un jazz sud-américain,
non pas un jazz …
gibt es so was wie Jazz, aber eben südamerikanisch...
[INTERVIEWER]: … tout ça dans „le boeuf sur le toit » d'ailleurs...
[OFF] :
Poulenc hat nicht unrecht : Vielfach, wie beim III.Satz aus Scaramouche, sieht man das schon am
Titel: „Brazileira“ und noch dazu an der Vortragsbezeichnung: Mouvm(en)t de Samba.
Allerdings ist der Rhythmus, den Milhaud als mouvement de Samba nennt, mit seiner auffälligen
Synkope in der Mitte des Taktes wiederum nicht so grundverschieden von dem, was wir als
rhythmisches Charakteristikum beim Ragtime beobachtet haben.
Manches bei Milhaud klingt mehr nach Rio de Janeiro, manch anderes aber mehr nach New York.
Zum Beispiel ist ein Hauptmotiv aus der Crátion du monde
[c d c es],
melodisch eine typische Bluesfloskel, identisch mit einem der Hauptmotive aus George Gerhwins
berühmter Rhapsody in Blue.
So wir das Motiv in der Rhapsody in Blue vom Klavier vorgestellt:
Und so, nicht weniger „blue“, klingt es in der Creátion du monde.