IV. Lebenswege

Als Darius Milhaud mit Frau Madeleine und Sohn Daniel am 15.Juli 1940 in New York das
Schiff verließ, da warteten am Quai schon Freunde aus Deutschland:
Lotte Lenya und Kurt Weill, der Komponist der Dreigroschenoper, der auf dem Weg vom
Berliner Schiffbauerdamm zum Broadway stilistisch zum vielleicht amerikanischsten all der
Musiker wurde, die damals Europa verließen, um sich vor den Nazis zu retten.
Unter den Emigranten aus der Generation nach Debussy und Satie waren manche,
die Klaviermusik mit Jazzelementen komponierten, darunter nicht wenige Juden,
die durch die Emigration den Holocaust überlebten.
Zum Beispiel der Deutsche Stefan Wolpe und der polnisch-französische Komponist Alexandre Tansman.
Oder sie überlebten nicht! Wie Erwin Schulhoff, ein Pragerdeutscher, der 1942 als Häftling auf der fränkischen Wülzburg den Tod fand.
Sechs Jahre vorher, 1936, als der Massenmord an den Juden noch in der Zukunft lag,
ihreEntrechtung aber seit Jahren in vollem Gange war, da verkündete Goebbels
[O-Ton GOEBBELS]:
Der früher oft gegen uns vorgebrachte Einwand, es gäbe keine Möglichkeit, die Juden aus
dem Kunst- und Kulturleben zu beseitigen, weil deren zu viele seien und wir die leeren Plätze
nicht neubesetzen könnten, ist glänzend widerlegt worden...
[OFF]:
…  jedenfalls waren es bald so viele, sei's in den besiegten Ländern, sei's in Deutschland und
Österreich, daß bis heute viele Menschen die Übersicht verlieren und auch solche von
den Nazis verfemten Komponisten für Juden halten, die gar keine waren:
Schulhoffs tschechischer Landsmann Bohuslav Martinů war zum Beispiel keiner, auch Ernst
Křenek nicht, und auch nicht Strawinsky oder Paul Hindemith.
Einer, bei dem der Irrtum, soviel ich weiß, noch nicht unterlaufen ist, ist Karl Amadeus
Hartmann, kann sein, weil er die Nazizeit ohne zu emigrieren, also in der sogenannten
inneren Emigration überstand.
Das Photo zeigt in mit Milhaud, der 1962 nach München kam, um in Hartmanns musica-viva-
Projekt mitzuwirken. Es ist eines von zahlreichen Beispielen, wie vielfältig sich die Lebenswege,
oft waren es ja Überlebenswege, der Komponisten, um die's hier geht, gekreuzt haben.
Nicht wenige sind Dokumente langjähriger Freundschaften.
Ihre Chronik reicht von diesem Bild, das Erik Satie 1910 in Debussys Wohnung
photographiert hat, bis zu dieser Anekdote, die Alexandre Tansman über Strawinsky zu erzählen wußte:
[O-Ton TANSMAN]:
Il était très bien elevé, très poli, mais enfin il ne faisait pas des compliments gratuits.
Er war höflich und von guten Manieren, aber er warf nicht mit Komplimenten um sich.
Je me rapelle, une fois, on était ensemble à un concert à Los Angeles.
Un compositeur très connu dont je ne vais pas dire le nom.
Einmal waren wir in Los Angeles im Konzert eines bekannten Komponisten –
den Namen verkneife ich mir.
Enfin [?] tâter ce que Strawinsky en parlait.
Ich wollte unbedingt wissen, was Strawinsky dazu sagt.
Finalement [?] Qu'est-ce que vous parlez, pensez de l'oeuvre?
Also fragte ich: „Was halten Sie von dem Werk ?“
Il [?] „J'ai beaucoup aimé les titres“
Darauf er: „Die Titel fand ich ganz gut“.
Voilà comme... C'est un homme qui avait un esprit formidable.
Also, der Mann hatte wirklich Witz !
Ce n'est pas du tout un homme renfermé comme on s'imagine.
Er war keineswegs verschlossen, wie viele meinen.
Il n'aimait pas qu'on lui envoye les gens qui ne l'interessaient pas [et] l'embêtent, c'est tout.
Er wollte nur nicht, daß man ihm mit Leuten kommt, die ihn langweilen.